"Medikamente gehen immer!"

Clara Hoffeins-Schwabe hat einen Hilfstransport an die polnisch-ukrainische Grenze organisiert. Hier erzählt sie von ihren bewegenden Erlebnissen und welche Spenden am dringendsten benötigt werden

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Von Anna Biß, 18.03.2022 0 Kommentare

Normalerweise fährt Clara mit ihrem "Kältebus" durch Schleswig-Holstein, um mittellose Familien und Obdachlose mit warmer Kleidung, Essen, Hygieneartikeln, Zuspruch und vielem mehr zu versorgen. Als mit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine eine Flüchtlingswelle losgetreten wird, weitet sie ihr Engagement aus und startet eine Hilfetour nach Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze.

Hallo Clara, wie hast Du reagiert als Du vom Angriffskrieg auf die Ukraine erfahren hast?

Ich war ziemlich erschrocken bzw. hatte durchmischte Gefühle. Der Krieg an sich ist ja schon seit 2014 in der Ukraine, nicht erst seit drei Wochen. Allerdings war diese Flüchtlingswelle so erschütternd für mich, weil es in erster Linie Frauen und Kinder trifft – sowohl alte Frauen, die wirklich nicht mobil sind, als auch Mütter und Schwangere. Das sind genau die Personen in unserer Gesellschaft, die am Verletzlichsten sind. Das hat mich schon sehr berührt.

Wann hast Du entschieden, dass Du Dein Engagement ausweiten und eine Hilfetour nach Polen starten willst?

Ziemlich schnell. Zuerst haben wir mit unseren eigenen Projekte weitergemacht. Aber dann ist das so präsent gewesen, dass ich es nicht mehr ignorieren konnte. Als ich dann mein Netzwerk aktiviert habe, habe ich gemerkt, dass ziemlich viele gerade dabei waren, sich aufzustellen. Ich habe mich dann mit Tobias von Fragstein zusammengetan, der vom Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag (sh:z) gerade zum Mensch des Jahres ausgezeichnet wurde, weil er über 20 Mal im Ahrtal geholfen hat. Und wir haben dann zusammen überlegt, wie wir diese ganzen kleinen Spendenaktionen und Hilfsbündnisse irgendwie bündeln können, damit das nicht so chaotisch wird, sondern etwas Geordnetes mit Hand und Fuß. Wir haben dann Kontakte genutzt, um Lastwagen zu organisieren, weil es natürlich wirtschaftlicher ist mit einem 40-Tonner zu fahren als mit dem Bus. Wir haben Sprinter organisiert, haben uns mit einem Tierschutzverein zusammengetan und sind dann nach Medyka an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren.

Hilfstransporte Ukraine
Hilfe, die nicht durchkommt: Auf dem Weg zur ukrainischen Grenze stauen sich die Hilfstransporte

Was habt Ihr auf Eurer Hilfetour erlebt?

Viel. Wir haben viele Deutsche getroffen. Wir sind auf eine sehr lange Warteschlange an der Grenze gestoßen, wo wir dann gesehen haben: "Okay, so kann Hilfe auch aussehen. Das passiert, wenn Hilfe nicht mehr hilfreich ist." Also die Straßen in Richtung Grenze waren einfach verstopft.

In Medyka selbst haben wir in einer Schule geholfen. Die ist quasi ein Stützpunkt ganz nah an der Grenze, wo viele Flüchtlinge aufgenommen werden. Dort werden sowohl die Flüchtlinge versorgt als auch die Sachspenden, die dort ankommen, in große Sprinter umgepackt. Und die werden dann vom Polnischen Roten Kreuz zum Militär über die Grenze gebracht, also direkt dorthin, wo sie gebraucht werden.

Ein paar hundert Meter weiter ist eine Basis von Centaurus. Das ist eine Tierschutzorganisation. Dort werden gerettete Tiere aus der Ukraine hingebracht und von dort aus dann sowohl an Tierschutzorganisationen als auch an private Vermittlungsstellen oder Pflegschaften verteilt. Das sind einerseits Tiere, die aus verlassenen Tierheimen evakuiert wurden. Aber auch Tiere von den Flüchtlingsfamilien. Oft können die sie auf ihrer Flucht nicht mitnehmen, weil sie entweder zu Fuß oder in kleinen Autos unterwegs sind bzw. auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Tiere sind dann oft nur eine noch größere Hürde, mitgenommen zu werden. Die Tiere werden dann von dort vermittelt, gehören aber weiterhin ihren Besitzern. Denn die möchten sie dann natürlich auch irgendwann wiederhaben. Es ist also keine Enteignung, sondern nur eine Pflegschaft.

Was hat Dich dort in Polen am meisten berührt?

Die Kinder. Man hat gemerkt, dass die Helfer versucht haben, eine nicht allzu sehr bedrückende Stimmung entstehen zu lassen. Aber es war natürlich bedrückend. Und je länger wir vor Ort waren, weil wir auf die Koffer der Flüchtlingsfamilie gewartet haben, die wir nach Berlin mitgenommen haben, desto näher kamen wir im Gebäude auch an die Situation der Flüchtlinge heran. Natürlich steht dort eine Art Schutzkonzept, also dass da nicht ständig Fremde rein- und rausgehen. Aber es war schon eine große Ansammlung aus Soldaten, Sanitätern, Helfern, Freiwilligen und Flüchtlingen.

Da war ein Klassenraum, wo eine Cafeteria eingerichtet wurde. Und mich hat schon sehr berührt zu sehen: Sobald Kinder in die Nähe von dem Tresen aus Schultischen kamen und einen Kakao wollten oder so, sind sämtliche gestandene Männer und alte polnische Soldaten aus dem Weg gesprungen. Das war wie selbstverständlich, dass der eigene Kaffee für die Nachtschicht jetzt völlig uninteressant und unwichtig ist, weil da gerade ein Kind steht und einen Kakao will.

Das waren für mich die berührendsten Momente. Da haben wir gesehen, dass wir doch alle derselben Meinung sind, nämlich, dass diese unschuldigen Kinder am wenigsten für diese Situation können. In dem Moment war Politik egal, in dem Moment war die Sprache egal: Wir waren uns alle darüber einig, dass hier etwas schiefläuft.

Wie lange wart Ihr vor Ort?

Drei Tage ungefähr.

Notunterkunft in Medyka
Im polnischen Medyka wurde eine Schule zur Sammelstelle für Sachspenden und Notunterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert

Und auf der Rücktour habt Ihr dann noch eine Flüchtlingsfamilie mit nach Deutschland genommen?

Genau. Eigentlich hatten wir geplant, Tiere mitzunehmen, weil wir keine Leerfahrt haben wollten. Wir hatten im Vorfeld von der Dramatik der Tierheim-Situation gehört und uns dann angeboten. Allerdings waren dann an dem Wochenende schon so viele Vereine vor Ort, dass es für uns nicht notwendig war, Tiere zu transportieren. Daher haben wir uns angeboten, auf dem Weg nach Deutschland Flüchtlinge mitzunehmen. Wir haben dann eine Mutter mit ihrem Kind, ihre Schwiegermutter und ihre Mutter mit nach Berlin genommen. Die Familie hatte, nach eigenen Aussagen, gerade eine Woche in einem sehr engen Keller gesessen und darauf gewartet, evakuiert zu werden.

Wie ging es diesen Menschen nach ihrer Flucht?

Die waren einfach nur müde. Also allein diese Müdigkeit und die Erschöpfung war ganz deutlich spürbar. Als wir dann endlich losgefahren sind, ist auch das Adrenalin von allen abgefallen. Als ihre Koffer da waren, auf die wir drei Stunden gewartet haben, weil die an der Grenze festhingen, haben sie erstmal alles ausgepackt und endlich was gegessen. Und dann haben sich auch innerhalb der nächsten halben Stunde hingelegt und fast fünf Stunden durchgeschlafen auf der Fahrt. So erschöpft waren sie einfach, auch von der ganzen Anspannung.

Wie geht es für die Familie in Berlin jetzt weiter?

Sie sind bei Verwandten untergekommen. Wir hatten die ganze Zeit Kontakt mit der Nichte, die auch ein bisschen Deutsch konnte. Von dort aus wollten sie dann nach dem Wochenende am Montag zur Ausländerbehörde, um sich zu melden. Die ganze Bürokratie ist ja zum Glück alles gerade ein bisschen vereinfacht worden. Ich glaube, in Berlin sind die erst mal ganz gut aufgehoben. Es ist immer gut zu wissen, wenn die Menschen bei Familie oder Freunden unterkommen. Das finde ich irgendwie doch schöner, als wenn sie bei Fremden landen.

Wie ist es für Dich jetzt so im Nachhinein?

Ich bin irgendwie noch da. Ich versuche das auch alles irgendwie noch zu verarbeiten. Viele Eindrücke kommen erst nach und nach. Wenn es nach mir geht, dann würde ich am liebsten gleich wieder los nach Medyka und helfen, weil die Menschen dort auch einfach alle so toll sind. Die Helfer dort machen das echt super. Die haben da ein klasse System eingerichtet und koordinieren das super und sind so dankbar für jede Hilfe, die kommt und für jede Spende – bis auf Klamotten! Bitte keine Klamotten mehr nach Polen liefern. Das sind jetzt schon viel zu viele.

Du hast ja auch zwei Kinder. Was für Fragen haben sie zum Krieg?

Gerade mein achtjähriger Sohn ist in einem Alter, wo er sich viel mit Gut und Böse beschäftigt. Die spielen ja auch Kämpfen auf dem Schulhof und Kindern ist natürlich nicht bewusst, dass das dann auch plötzlich ernst sein kann und was das bedeutet.

Tatsächlich hatte ich heute Morgen erst ein sehr langes Gespräch mit meinem Sohn über Krieg und was das zu bedeuten hat. Er hat dann auch gefragt, wo das denn genau ist. Entfernungen zu erklären finde ich auch sehr spannend in dem Alter. Ich habe dann versucht, ihm das am Beispiel von unseren eigenen Urlauben anschaulich zu machen. Wir sind schon ein paar Mal nach Schweden gefahren, das ist ja zwei Länder weiter. Da wusste er genau: Wir müssen durch Dänemark fahren und ein Land weiter ist dann Schweden. Und so habe ich ihm das auch mit dem Ukrainekonflikt erklärt. Also: "Du müsstest quasi von Deutschland erstmal nach Polen fahren und von Polen dann noch ein Land weiter. Da ist die Ukraine und da ist gerade Krieg."

Dann hat er natürlich auch nach so Sachen gefragt, die er aus Filmen oder Serien kennt: Sind da auch Bomben und Flammenwerfer? Da überprüfen die Kinder dann die eigene Realität. Und ich habe ihm auch erklärt, warum die Menschen fliehen: "Stell mal vor, wir müssten jetzt plötzlich weg, weil es sein kann, dass unser Zuhause von einer Rakete kaputt gemacht wird. Da würdest Du auch Angst haben, oder?" Und da meinte er: "Ja und ich wüsste gar nicht, was ich mitnehmen sollte." Also allein diese Vorstellung, sich wirklich auf das Nötigste beschränken zu müssen, auf ein Kuscheltier, ein Kleidungsstück oder eine Trinkflasche und eine Brotdose. Diesen Überfluss und diese Auswahl plötzlich nicht mehr zu haben, solche Luxusprobleme einfach nicht mehr zu haben. Das können sich unsere Kinder gar nicht vorstellen. Da hört die Vorstellungskraft einfach auf.

Wenn man mit dem Auto in ein Kriegsgebiet fahren kann, dann ist das viel zu nah an einem dran.

Clara Hoffeins-Schwabe, Projekt "Exilsucher"

Nur zwei Länder weiter ... Das ist schon auch beängstigend.

Ja, das ist viel zu nah dran. Ich finde, wenn man mit dem Auto in ein Kriegsgebiet fahren kann, dann ist das viel zu nah an einem dran. Auch über solche Ängste sollte man auf jeden Fall mit den Kindern sprechen. Denn Kinder kriegen ganz viel mit, auch das Ungesagte und die ganze Atmosphäre.

Deswegen würde ich Eltern immer dazu raten, mit den Kindern zu reden. Und wenn sie es selbst nicht können, sich dann Hilfe von Freunden oder Lehrern oder anderen Personen zu holen, die es vielleicht eher schaffen, das in Worte zu fassen. Lehrern würde ich raten, auf jeden Fall das Thema aufzunehmen und auf kinderfreundliche Art und Weise zu gestalten.

Klingt jetzt vielleicht komisch, aber manchmal reicht das schon, wenn man ein Bild malt. Sowohl für die Kinder hier, die das irgendwie versuchen zu verstehen, als auch für die Kinder, die jetzt gerade hier zu Gast sind und eigentlich nur einen Zwischenstopp haben.

Wie kann ich als Kind oder wir als Familie den ankommenden Kindern den Start erleichtern?

Es werden hier jetzt viele, viele Kinder mit ihren Müttern und Großeltern ankommen. Und wenn man da einfach ein Bild vorbeibringt oder vielleicht auch mal gemeinsame Aktion draus macht. Das kann schon helfen. Hier bei uns an der Notunterkunft sind zum Beispiel Bauzäune, die im Moment noch nicht mit Sichtschutz verkleidet sind. Die könnte man mit freundlichen Grüßen oder mit Bildern oder so dekorieren. Das ist dann, glaube ich, für alle ein Gewinn und es entsteht ein Stück weit eine Art von Gemeinsamkeit, eine Art von Bindung und Verständnis. Auch wenn vielleicht nicht unbedingt bedingungslose Verständnis herrscht, weil wir das einfach nicht verstehen können, was diese Kinder gerade durchmachen. Aber wir können ihnen zumindest die Hand reichen und sagen: „Hey, wir sehen Dich aber! Und wir wissen, dass Du da bist und gerade echt viel durchmachst.“

Wenn ich jetzt spenden möchte: Woher weiß ich denn, ob meine Spende wirklich da ankommt, wo sie am Dringendsten benötigt wird? Wie erkenne ich seriöse Organisationen?

Ich würde immer als Erstes auf mein Herz und die eigene Intuition vertrauen. Die sagt mir meistens schon, ob eine Organisation oder Aktion seriös ist oder nicht. Wenn Du ein schlechtes Gefühl hast, solltest Du auf jeden Fall die Hände davon lassen.

Seriöse und herkömmliche Organisationen, die wir bereits kennen, wie das Deutsche Rote Kreuz, Caritas, die Malteser oder die Tafel – bei denen kann man davon ausgehen, dass die Dinge auf jeden Fall da landen, wo sie gebraucht werden. Selbst wenn der Ukraine-Konflikt vorbei ist, werden die Sachen dann auch wiederum für andere Hilfsaktionen und Hilfebedürftige benötigt und weiterverwendet. Ich würde immer auf herkömmliche Organisationen setzen, die man kennt, die man vielleicht schon vorher unterstützt hat.

Sollte ich lieber an eine Organisation in Deutschland, also zum Beispiel an das Deutsche Rote Kreuz, oder direkt in die Ukraine spenden?

Wenn die Möglichkeit besteht, direkt an die Ukraine. Also wenn man mitbekommt, dass sich Bekannte oder Projekte auf den Weg machen an die Grenze, von wo es dann wiederum direkt über die Grenze verteilt wird. Dann würde ich das auf jeden Fall immer in erster Linie wählen. Denn genau da wird es jetzt gerade gebraucht.

Natürlich brauchen auch die Menschen etwas, die hier ankommen. Aber die Lager sind voll. Ich habe gerade erst mit der Kleiderkammer hier vor Ort telefoniert. Es gibt genug für alle.

Wenn man trotzdem noch etwas verteilen möchte, dann würde ich immer auf Hygieneartikel und Medikamente setzen. Auch vom Polnischen Roten Kreuz gab es gerade nochmal den Aufruf: Insbesondere Medikamente werden in der Ukraine dringend benötigt. Wer da Möglichkeiten hat, an Spenden ranzukommen, also an Restlager von Apotheken, von Ärzten oder Krankenhäusern: Medikamente gehen immer!
 

Spendenabgabe in Medyka
Spendenabgabe in Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze

Sind denn grundsätzlich Geld oder Sachspenden sinnvoller?

Kommt auf die Sachspende an. Wenn man mit Geld jemanden unterstützen kann, zum Beispiel in Form von Sprit für jemanden, der Sachspenden in die Ukraine bringt. Dann ist natürlich Geld eine wichtige Unterstützung.

Wer allerdings Medikamente und Hygieneartikel zur Verfügung stellen kann, der sollte das machen. Da sollte jeder bei sich selbst gucken, was möglich ist.

Exilsucher Logo mit Ukrainebezug
Über Clara und die Exilsucher

Clara Hoffeins-Schwabe ist 30 Jahre alt, lebt im Herzen Schleswig-Holsteins und hat zwei Kinder. Sie hat Soziale Arbeit studiert und arbeitet in der Ambulanten Familienhilfe.

Ende 2021 hat Clara – über Spenden finanziert – mit Ihrem "Exilsucher-Projekt" den ersten "Kältebus" für Neumünster und Umgebung ins Leben gerufen. Mit ihrem Team aus Ehrenamtlichen ist sie den ganzen Winter unterwegs gewesen, um Obdachlose und mittellose Familien mit Kindern mit dem Nötigsten zu versorgen.

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