Muttis Mythos: Was nicht tötet, härtet ab

Kaum ein Zitat ist so viel verdreht worden wie Friedrich Nietzsches "Was uns nicht umbringt, macht uns stärker". Denn dieser Mythos passt in viele Lebenslagen und Weltbilder

Kolumnen
Von Anna Biß, 28.08.2023 0 Kommentare

Es ist still, verdächtig still. Als ich ins Badezimmer komme, steckt sich das Kleinkind gerade die Finger in den Mund, nachdem es zuvor mit der Klobürste gespielt hat. Während ich innerlich einen Schreikrampf unterdrücke und meinem Kind sehr gründlich Hände und Gesicht mit Seife wasche, meldet sich Muttis Stimme in meinem Kopf: "Ach, was nicht tötet, härtet ab!" Ja, danke, mein Kind muss ja trotzdem nicht unbedingt krank werden ...

Fakt ist: Der Spruch, den wir bis heute in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder hören – ich sag' nur Corona-Pandemie und "Immunschuld" (dazu später mehr) – geht eigentlich auf den Philosophen Friedrich Nietzsche zurück.

Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.

Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Sprüche und Pfeile 8, 1922

In Nietzsches Spätwerk "Götzen-Dämmerung" steht er, ohne großartigen Kontext, zwischen anderen. Kein Wunder also, dass immer wieder Menschen versucht haben, ihm einen zu geben. Während wir Eltern das Zitat eher in Richtung der körperlichen Abwehr, zum Beispiel von Krankheiten, Viren oder Bakterien verwenden, hatte Nietzsche sicher eher eine Art von geistiger Abhärtung im Sinn.

Diesen Gedanken hat die Psychologie aufgegriffen: In der Traumatherapie oder in Zusammenhang mit Resilienz ist seit den 1990er Jahren vermehrt von "Posttraumatischem Wachstum" die Rede. Dem Begriff liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen, die eine Krise durchlebt haben oder ein traumatisches Erlebnis hatten, auf lange Sicht oft gestärkt daraus hervorgehen. Da es aber sehr von der jeweiligen Persönlichkeit abhängt wie Menschen mit Krisen umgehen und die Studien zum Thema methodische Schwächen aufweisen, ist die Annahme eines posttraumatischen Wachstums unter Psychologen und Psychologinnen auch durchaus umstritten. Und nur, weil es Menschen, die gestärkt aus Krisen hervorgehen – oder es zumindest glauben, bedeutet das ja nicht, dass wir uns ihnen absichtlich aussetzen sollten! 

Als nach dem Ende der Corona-Maßnahmen, auffällig viele Menschen gleichzeitig an Atemwegsinfekten litten, kam der Begriff der "Immunschuld" auf. Dieser suggeriert, dass wir krank werden, wenn unser Immunsystem nicht ausreichend trainiert wird und dadurch geschwächt ist. Im Umkehrschluss bedeutet das: Infekte stärken den Körper. Und da sind wir schon wieder bei Mutti und der Klobürste: Diese Annahme ist schlichtweg falsch und medizinisch eindeutig widerlegt. Vielmehr ist es so, dass jeder Infekt dem Körper nachhaltig schaden kann (!). Insbesondere Kinder daher absichtlich schweren Krankheiten auszusetzen – zum Beispiel durch Masern-Partys oder Nicht-Impfen im frühen Kindesalter, ist meiner Meinung nach daher nicht nur fahrlässig, sondern schlichtweg verantwortungslos.

Um zu verstehen, warum der Begriff der "Immunschuld", auf diese Weise ausgelegt, nicht stimmt, müssen wir uns klarmachen wie unser Immunsystem überhaupt funktioniert. Und das erklären die Kolleginnen und Kollegen von Quarks in diesem Beitrag ganz hervorragend:

Wir und insbesondere auch Kleinkinder sind also nach der Pandemie nicht häufiger krank geworden, weil unser Immunsystem aus dem Training war, sondern weil ihm, bestimmte Viren und Bakterien betreffend, gewissermaßen ein Update fehlte. Wir hatten während der Pandemie zwar weniger Kontakt zu Krankheitserregern, aber unser Immunsystem hatte dennoch genug zu tun, um am Laufen zu bleiben. Medizinerinnen und Mediziner sprechen daher lieber von einer "immunologischen Lücke" als von einer Immunschuld. Denn wir machen uns selbstverständlich nicht "schuldig", wenn wir uns oder unsere Kinder vor Krankheiten schützen. Und unser Immunsystem braucht keine Krankheiten, um sich zu stärken.

Anders verhält es sich mit Kontakt zu harmlosen Bakterien und Umweltstoffen, mit denen Kinder zum Beispiel beim Buddeln im Sand oder Matsch in Berührung kommen oder in einem "normalen" Haushalt, wo nicht ständig alles desinfiziert wird. Sie funktionieren dann ähnlich wie eine Impfung, bei der das Immunsystem ja ebenfalls einer winzigen, nicht krankmachenden Dosis eines Erregers ausgesetzt wird. Kinder, die schon in jungen Jahren in einem gesunden Maße mit solchen mikrobiellen Stoffen in Kontakt treten, leiden nachweislich seltener an Allergien, Lebensmittelunverträglichkeiten, Asthma, Autoimmunerkrankungen oder Neurodermitis, weil das Immunsystem frühzeitig gelernt hat zwischen gefährlichen und ungefährlichen Stoffen zu unterscheiden. Es wird dadurch aber nicht trainiert wie ein Muskel, sondern dauerhaft programmiert.

Also Mutti: Das Spielen im Matsch sowie die geistige oder innere Stärke betreffend hat der Mythos "Was nicht tötet, härtet ab" tatsächlich einen wahren Kern. In Bezug auf Infektionskrankheiten ist er hingegen schlicht und einfach Unsinn.


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